Transidentität vor 100 Jahren

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Cornelia_D

Transidentität vor 100 Jahren

#1 Beitrag von Cornelia_D » Dienstag 15. Februar 2005, 20:32

Transidentität vor 100 Jahren

Wissen wir eigentlich, wie es uns ergangen wäre, wenn wir 100 Jahre früher geboren wären? Der Aufsatz von Rainer Herrn gibt uns einen Eindruck darüber.

Vom Geschlechtumwandlungswahn zur Geschlechtumwandlung
von Rainer Herrn, Leiter der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft <br>

1. Einleitung

Der Arzt Magnus Hirschfeld (1868 - 1935), Mitbegründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung und verschiedener sexualwissenschaftlicher Organisationen, eröffnete 1919 das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft. 1910 prägte Hirschfeld den Begriff Transvestismus. 1923 den des Transsexualismus. Im folgenden Beitrag führt Hirschfelds wissenschaftlichen Auffassungen über Menschen mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung nachgegangen. Die zuerst den homosexuellen, später dem Transvestiten zugeordnet wurden. Bereits in den 20er Jahren wurden durch Initiative der Mitarbeiter des Instituts für Sexualwissenschaft Namensänderungen möglich und sogenannte Transvestitenscheine ausgestellt, ausserdem wurden erste chirurgische Geschlechtsumwandlungen durchgeführt.

Homosexualität, Transvestismus und Transsexualität beschreiben drei verschiedene Überschreitungen der Geschlechterstereotypen. Sie müssen nach heutiger Definition nicht notwendig etwas nicht miteinander zu tun haben und sind keineswegs universell, weder historisch noch kulturell. Die Begriffsentwicklung dieser Sexualcharaktere begann in Deutschland in der Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie ist gekennzeichnet von der Abspaltung, Pathologisierung und Individualisierung der nicht auf Fortpflanzung gerichteten Sexualitäten. Wissenschaftlich entdeckte man zuerst die Homosexuellen, die man damals noch Urninge oder konträrsexuell nannte. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840 - 1902) unterschied in seiner Bekannten ";Psychopathia sexualis" noch nicht danach, ob Männer und Frauen sich sexuell vom gleichen Geschlecht angezogen fühlten oder selbst dem anderen Geschlecht angehörten wollten, alle waren konträrsexuell. Unterteilt wurden die konträrsexuellen in virile und effiminierte Personen, die Krafft-Ebing für erblich belastet und psychisch degeneriert hielt. Unter anderem erwähnt er eine Subkategorie, die er mit "Metamorphosis sexualis paranoica" betitelte und zur Homosexualität zählte: "eine letzte mögliche Stufe in dem Krankheitsprozess stellt der Wahn der Geschlechtsverwandlung dar. Ihr wurden Frauen und Männer zugeordnet, die sich psychisch und/oder körperlich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlten.

2. Vom Dritten Geschlecht zur Zwischenstufe
Später begann unter anderem Magnus Hirschfeld, die Ordnung des Sexuellen auf seine Art zu erklären. Bis etwa 1905 ging er davon aus, dass die Homosexuellen neben Männer und Frauen ein drittes Geschlecht konstituieren, eine Theorie, die auf Karl-Heinrich Ullrichs (1825 - 1895) zurückgeht. In Hirschfelds damaligen Verständnis entsprachen die Homosexuellen der Natur, und natürlich waren sie nicht pervers. In den Jahren bis 1910, unter dem Einfluss von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) änderte Hirschfeld jedoch seinen theoretischen Rahmen zur Erklärung von Sexualität und Geschlecht. Er entwarf die Zwischenstufentheorie. Jeder Mensch, so Hirschfeld, ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib, weil jeder in sich Merkmale beider Geschlechter vereine. Die Homosexuellen verschwanden nunmehr in der Vielzahl der Zwischenstufen, die sich der ;besseren Übersicht halber in vier Hauptgruppen einteilen liessen: in die Zwischenstufen der Geschlechtsorgane (Hermaphroditen), der sonstigen körperlichen Eigenschaften (Weitbrüstler und Bartdamen), des Geschlechtstriebes (Homosexuelle) und der sonstigen seelischen Eigenschaften (Transvestiten). Diese vier Hauptgruppen waren biologisch begründeteZwischenstufen. Zwischen Vollmann und Vollweib.

Hirschfeld hatte also die Gruppe der Umkleidungstäter von den Homosexuellen gelöst und sie für die Bezeichnung und sie für die Bezeichnung Transvestiten vorgeschlagen. Ihnen widmete er 1910 ein erstes Buch mit dem Titel. "Die Transvestiten". Der Begriff Transvestiten ist wohl der einzige Hirschfelder Prägung der heute noch im Sinne seines Erfinders verwendet wird. Sicher spielten sexualpolitische Aspekte bei der Schaffung dieser Kategorie eine Rolle. Zu den sozialen Hintergründen zählte z. B. die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen und damit verbunden ihr Vordringen in sogenannte Männerberufe, insbesondere in die Bereiche Wissenschaft und Politik. Als sichtbares Zeichen der Grenzüberschreitung trugen diese Frauen nicht selten Männerkleidung. Für Hirschfeld waren sie biologisch begründete Abweichlerinnen.
Wichtiger für die Schaffung der Kategorie Transvestiten dürften jedoch harte Auseinandersetzungen über die Erklärung der Homosexualität und das damit verbundende Bild vom Homosexuellen gewesen sein. Die "Gemeinschaft der Eigenen", eine Homosexuellenorganisation, die mit Adolf Brand, Hans Blüher und Ewald Tscheck parallel zudem von Hirschfeld geleiteten wissenschaftlich humanitären Kommitee (WHK) entstand und der Tradition des pädagogischen Eros verpflichtet war richtete sich vehement gegen Hirschfeld Verweiblichung der Homosexuellen.

Auch innerhalb des WHK regte sich um 1907 mit der Gründung der Sezession des "Viril" orientierten Flügels/Widerstand gegen Hirschfelds Konstruktion des homosexuellen als femininen Mann. Nach Auffassung der misogynen Sezessionisten machte Hirschfeld die Homosexuellen zuHalbweibern; und ;psychischen Missgeburten. Das WHK lief in dieser Zeit Gefahr auseinanderzubrechen. Die Abschaffung des $ 175 Reichsstrafgesetzbuch als Ziel der Homosexuellenbewegung setzte aber eine Bündelung ihrer verschiedenen Strömungen voraus und diese Konsensfähigkeit über das Bild des Homosexuellen. Letzteres versuchte Hirschfeld durch die Ablösung der Effiminierten von den Homosexuellen. Die Schaffung der Kategorie Transvestiten, in der feminine Männer und virile Frauen neben anderen zusammengefasst werden, ist somit als Konzession Hirschfelds an die Oppunenten in der homosexuellen Bewegung und gleichzeitig als Versuch der biologischen Erklärung und kategorialen Auslagerung, der nicht dem damaligen Rollenverständnis gemäss lebenden Frauen. Die von Hirschfeld vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Transvestiten und Homosexuellen beruhte vor allem auf seinen Beobachtungen nach denen nicht alle Homosexuellen transvestitisch und nicht alle Transvestiten nicht homosexuell seien. Das war auch wissenschaftlich nicht unumstritten. Insbesondere die Psychoanalytiker, wie die Freudschüler Isidor Sadger und Wilhelm Steckel, behaupteten bei jedem Transvestiten kämen, wenn auch unbewusst Triebanteile vor. Mit dem gleichen pathologisierenden Gestos wie Krafft-Ebing schreibt Hirschfeld in dieser Zeit zur Geschlechtsumwandlung:

So sehr sich die transvestitischen Männer in ihrer Verkleidung als Frauen, die Frauen als Männer fühlen, so bleiben sie sich doch stets bewusst, dass sie es in Wirklichkeit nicht sind. Wohl bilden sich manche von ihnen ein - wenn je so ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens, dass ihre Haut zarter, ihre Formen runder, ihre Bewegungen graziöser seien, wie die gewöhnlicher Männer, aber sie wissen ganz genau und sind oft depremiert darüber, dass sie körperlich nicht dem von ihnen geliebten und begehrten Geschlecht angehören. Würden sie sich, ob verkleidet oder nicht tatsächlich für Frauen halten(....), dann wären es wahrhafte Vorstellungen und der Zustand müsste als Geisteskrankheit, als Verrücktsein, als Paranoia angesprochen werden. Solche Fälle von Geschlechtsverwandlungswahn - Metamorphosis sexualis paranoica - kommen auch vor, wenn gleich im Verhältnis zu anderen Wahnideen selten.

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