Selbstwerdung, Selbstfindung?

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Wyrd
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Selbstwerdung, Selbstfindung?

#1 Beitrag von Wyrd » Dienstag 3. Januar 2012, 18:47

Orientierung vor und während der ersten Schritte

Für mich momentan von besonderer Wichtigkeit ist das Wachsen in der gelebten Rolle als Frau.
Dazu wollte ich gerne zur Mithilfe auffordern, um vielleicht eine kleine Sammlung an Tipps und Erfahrungen zusammenzutragen.

Seit nun etwa einem halben Jahr lebe ich als Frau.
Der Wechsel hat meinem Leben die benötigte Farbe verpasst, und ich fühle mich seit langem auf dem richtigen Weg in die Zukunft.
Doch nach 6 Monaten werden Fragen laut, die ich vorher überhört hatte, weil alles erstmal neu und shiny war, und ich mich durch eine Welle von mehrheitlich oberflächlichen Erfahrungen vom Seelengrund ferngehalten habe.
Nun, da die See ein wenig ruhiger geworden ist, tauchen Konflikte auf denen ich in der Zeit, während, und vor dem Beginn meines Lebens als Frau keine grosse Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Ich habe versucht alles was an mein altes Leben erinnert Stück für Stück zu verändern, zu verbergen und ganz verschwinden zu lassen.
Was dabei auf der Strecke blieb ist die Entwicklung meiner Persönlichkeit.
Und jetzt frage ich mich, wer ich eigentlich bin ausser dem Sammelsorium von Do's and Don'ts.

Wer möchte ich sein, und woran orientiere ich mich eigentlich?

Was ich auf jeden Fall ändern möchte ist, der Zustand meines sozialen Netzwerkes.
Durch meine Problematik habe ich mich zurückgezogen, da ich meine Kraft für die Transition und die darauf folgenden Probleme fokussieren kann.
So schlimm wie erwartet war's dann doch nicht. Es erfordert einfach starke Nerven.

Ich arbeite am Einstieg zurück in die Gesellschaft, und erhoffe mir dadurch eine bessere Orientierung für mein Ich.

Was ich Euch nun fragen möchte ist,

1. Was habt ihr in Eurer Anfangszeit für die Gestaltung Eurer Persönlichkeit getan?

2. Hattet Ihr Vorbilder? (Freunde, Familie, Berühmtheiten?)

3. Wodurch habt ihr Bestätigung erfahren?

3. Was für Wissen gibt es, dass ihr zu Beginn Eures Wegs gerne gehabt hättet, aber erst später erfahren habt?

4. Gibt es sonst noch Tipps die Eurer Meinung nach zu einer gesunden Entwicklung nach der Transition beitragen können?



Jeder darf aufschreiben was ihm dazu in den Sinn kommt, es gibt keine Peinlichkeiten und es werden keine Geheimnisse schlecht geredet.

So dann denn, auf auf!

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Luisa
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Re: Selbstwerdung, Selbstfindung?

#2 Beitrag von Luisa » Mittwoch 4. Januar 2012, 21:13

Werte Natalie

Schwierige Fragen die Du hier zu stellen weißt.
Ich bin um etwas aus dem Nähkästchen zu plaudern, keineswegs leuchtendes Beispiel. Auch ich sehe einige Parallelen in meiner Entwicklungsgeschichte zu Deinen hier beschriebenen aufkommenden Fragen.

Es ist unbestritten während der Anfangszeit der Transition ist das Grundthema Transition schlicht allgegenwärtig. Hinzukommend ist unser Prozess ein regelrechter Kampf mit allerlei, Gesellschaftsfaktoren, Familie, Freunde, Arbeit, Schule bis hin zu Gutachtern, Psychiatern, Ärzte und einige mehr.

Erst allmählich fand ich wieder zu mir. Ein wichtiger Schnittpunkt hierbei war das Ende des Kampfes was wiederum enorme Ressourcen in mir freisetzte.

Nun denn, ich versuche trotzdem, um hier einen Anfang zu setzten, mich in Jahre 2001 / 2002 zurückzuerinnern. Wie gesagt, trotz meines Alters, was mit Lebenserfahrung einhergehen sollte, war meine Transitionsphase keineswegs unproblematischer.
Wyrd hat geschrieben:1. Was habt ihr in Eurer Anfangszeit für die Gestaltung Eurer Persönlichkeit getan?
Ich versuchte steht’s mich zu sein, mit allen möglichen Ecken und Kanten. Hierbei vielleicht hilfreich war ein Weiterpflegen meiner, aus Sozialisierungssicht heraus betrachtet, durchaus maskulinen Interessensgebiete (Technik, Autos, BDSM usw). Und wenn ich, insbesondere bei den Gutachtern, ziemlich übel aneckte, so konnte ich doch, oder vielleicht gerade deswegen, meine sehr individuelle Personalität entwickeln und pflegen.
Wyrd hat geschrieben:2. Hattet Ihr Vorbilder? (Freunde, Familie, Berühmtheiten?)
Es gibt in meiner Familie einige Persönlichkeiten die mich stark prägten. Meine Mutter sei genannt die mit viel Stärke, ein nicht immer einfaches Leben meisterte und noch heute eine sehr freiheitliche Einstellung pflegt. Auch waren aus meiner spanischen Familienhälfte einige sehr starke Charaktere hervorgegangen die im Prozess meiner Transition als Vorbilder hinhalten mussten, dies hauptsächlich begründet in deren Stärke.
Wyrd hat geschrieben:3. Wodurch habt ihr Bestätigung erfahren?
Beruf war hierbei ein wichtiger Faktor. Ich entwickelte ein erstaunlicher Aktionismus was mir wiederum die Gutachter zum Stricke drehten. Indes, hierbei positiv, jede Gegenwehr der Entscheidungsträger, erwähnt etwa die Psychiatrische Polyklinik in Zürich, schaffte den Umkehreffekt, namentlich mich in meiner Person zu stärken. Dank sei meinem Anwalt ausgesprochen welcher letztlich den von den Gutachtern produzierte Schlamassel wieder geradebog
Wyrd hat geschrieben:3. Was für Wissen gibt es, dass ihr zu Beginn Eures Wegs gerne gehabt hättet, aber erst später erfahren habt?
Ich war teils naiv in dies Prozedere hineingestürzt. So unterschätzte ich die holde Psychiatrie ganz gewaltig. Mit heutigem Wissenstand hätte ich meine Transition viel zielgerichteter geplant und aufgegleisst.
Wyrd hat geschrieben:4. Gibt es sonst noch Tipps die Eurer Meinung nach zu einer gesunden Entwicklung nach der Transition beitragen können?
Sei Du selbst.


Liebi Grüessli

Luisa

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Re: Selbstwerdung, Selbstfindung?

#3 Beitrag von Tanja » Freitag 10. Februar 2012, 23:05

Liebe Natalie

Etwas verspätet versuche ich nun auch noch eine Antwort in Kurzform auf Deine Fragen zu geben:

Meine Vorgeschichte ist eben etwas anders als Deine. Du bist 18 Jahre jung und hast noch Dein ganzes Leben vor Dir. Ich hätte mir gewünscht, bereits mit 18 Gewissheit zu haben, welchen Weg ich einschlagen muss. Leider dauerte bei mir der Prozess sehr lange und erst mit 46 ist dann bei mir das Tor, welches immer nur einen Spalt offen war, plötzlich weit aufgerissen worden und der weitere Weg klar wurde.

Ich möchte mich dem Satz von Luisa anschliessen, den ich für die wichtigste Erkenntnis überhaupt halte:

*** SEI DU SELBST! ***

Mein halbes Leben war ich eben nicht mich selbst sondern habe immer wieder versucht, meinem Umfeld zu gefallen und das zu spielen was man für mich vorgesehen hat. Darum hat diese Aussage für mich nun eine grosse Bedeutung und beantwortet gleichzeitig die Frage nach den Vorbildern. Nein, eben aus dem Grund habe ich heute keine Vorbilder und will auch keine. Denn wenn ich welche hätte, so wäre ich wiederum nicht mich selbst sondern würde dann versuchen, wie diese Vorbilder zu sein.

Ich hoffe, Du kannst meinen Gedanken folgen, und schreib Dir diesen Satz mit ganz grossen Buchstaben an die Decke über dem Bett, so dass Du sie jedesmal vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen siehst:
SEI DICH SELBST! (und nicht das was Dein Umfeld von Dir erwartet)

Liebe Grüsse
Tanja
"Men have the strength - but women have the power"

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