Geschlechter-Stereotypen

Schwarze Haut - 'weisse' Phantasien:
Geschlechter-Stereotypen bei Lyle Ashton Harris

Der afro-amerikanische Künstler Lyle Ashton Harris (geboren 1965) spielte im Verlaufe seiner nun zehnjährigen Karriere in seinen Photographien verschiedene Rollen.121 Lyle Ashton Harris wurde durch seine theatralisch inszenierten Selbst-Porträts und durch Porträts von Freunden und Mitgliedern seiner Familie bekannt.122 Harris gilt deshalb als Schauspieler, Regisseur und Photograph zugleich. Seine Arbeitsweise lässt sich daher mit derjenigen von Cindy Sherman vergleichen. Beide Künstler spielten eine Vielzahl von Frauen- und Männerrollen, zeitgenössische wie auch historische Figuren. Beide haben sich mit den gängigen Vorstellungen über Andersartigkeit beschäftigt - Sherman von ihrer Position als Frau aus und Harris als afro-amerikanischer Mann. Vorstellungen über 'das Andere' bzw. 'die Anderen' sind in den vergangenen zwanzig Jahren wiederholt von Künstlern und von Kulturtheoretikern thematisiert worden.123

Lyle Ashton Harris wuchs im New Yorker Stadtteil Bronx auf und lebte als Jugendlicher mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder für kurze Zeit in Dar Es Salaam (Tansania). Nachdem er an der Wesleyan University in Middletown im amerikanischen Bundesstaat Connecticut für kurze Zeit Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, wechselte er über zur Kunst. 1990 schloss er sein Studium mit einem Master's Degree am California Institute of Arts in Valencia ab. Ein Jahr später absolvierte Harris die Photographie-Akademie des National Graduate Photography Seminar in New York und erhielt danach ein Stipendium für das Whitney Independent Study Program. Seit 1991 sind seine Arbeiten häufig in Gruppenausstellungen in den Vereinigten Staaten und gelegentlich auch in Europa zu sehen.124

Als Afro-Amerikaner thematisiert Lyle Ashton Harris in seinem Werk das Erbe der afrikanischen Diaspora. Bilder von Menschen afrikanischer Abstammung haben immer wieder das Bedürfnis westlicher Betrachter nach exotischem, erotisch aufgeladenem Spektakel befriedigt.125 In Venus Hottentott 2000 mimt eine Mitarbeiterin von Harris, Renée V. Cox, die sogenannte Venus Hottentott (Abb.12).126 Die Darstellerin hat sich die stereotypen, sogenannt 'natürlichen' Körpermerkmale einer Afrikanerin buchstäblich angeeignet: Sie hat sich groteske, übergrosse Brüste und Gesässbacken aus glänzendem, bronzefarbenem Material umgeschnürt. Die im Profil sichtbare Darstellerin ist - bis auf die Prothesen - nackt. Wie Cindy Sherman setzt Harris Prothesen ein, die den Blick auf intime Körperteile lenken, diese jedoch gleichzeitig auch verhüllen. Die Lippen der Hottentott-Darstellerin sind rot geschminkt, sie stützt ihren linken Arm auf ihre Hüfte und richtet ihren Blick herausfordernd in die Kamera. Den Hintergrund bilden drei farbige Streifen in Rot, Schwarz und Grün. Die historische Venus Hottentott, die nur etwa 1.35 Meter grosse Afrikanerin Saartje (oder Sarah) Baartman aus der südafrikanischen Kapregion, war 1809 von einem Buren nach London gebracht worden. Dort wurde sie als Kuriosum ausgestellt - vergleichbar einem exotischen Tier. Die Schaulust des Publikums richtete sich vor allem auf ihren auffälligen, stark abstehenden Hintern und auf ihre erstaunlich grossen Schamlippen. Damals wurde vermutet, dass diese Form der Genitalien ein natürliches Charakteristikum einer exotischen Rasse sei. In Tat und Wahrheit waren sie aber das Ergebnis gewisser manueller Praktiken, die diesen Körperteil gemäss einem nicht-westlichen Schönheitsideal veränderten. Was als natürliche anatomische Gegebenheit aufgefasst wurde, war demnach das Resultat einer kulturellen Praxis.127

Für die Evolutions- und Degenerationstheoretiker des 19. Jahrhunderts verkörperte Saartje Baartman das vollständig Andere, welches die eurozentrischen Vorstellungen über andersartige Völker noch verstärkte. Zudem wurde nach dieser Betrachtungsweise das Verschiedene, Andersartige - Baartmans Gesässform und Schamlippen - durchwegs pathologisiert.128 Die Körpermerkmale der Venus Hottentott bestärkten zudem das Stereotyp des schwarzen Körpers, der mit urwüchsiger Natur und mit der Vorstellung einer übermässigen Sexualität gleichgesetzt wurde. Der amerikanische Kulturhistoriker Sander Gilman betonte, das Interesse der Zuschauer habe sich nicht ausschliesslich auf das Gesäss gerichtet, sondern die ungewöhnlich grossen Schamlippen hätten besondere Aufmerksamkeit erregt. Dieses Interesse am Genitalbereich sei aber weitgehend verleugnet worden, und die Schaulust habe sich deshalb pro forma auf das voluminöse Gesäss verlagert. Gilman bezeichnete diesen Vorgang als 'rassischen Fetischismus'. Ein öffentlich bekundetes Interesse an den Genitalien hätte einen Tabubruch bedeutet.129

Die Darstellerin in Venus Hottentott 2000 spielt also eine Rolle, die als Stereotyp erkennbar ist. Nach Stuart Hall reduzieren Stereotypen den individuellen Status und vereinfachen vielfältige Merkmale auf einen wesentlichen Grundzug.130 Stereotypen werden also gebildet, indem Eigenschaften der Verschiedenartigkeit selektiv hervorgehoben und dabei häufig als naturgegeben und somit unveränderlich dargestellt werden - also 'naturalisiert'. Deshalb kann mittels Stereotypen zwischen den Kategorien bekannt und fremd, normal und pathologisch unterschieden werden; Eigenes kann durch Fremdes erklärt werden. Michael Rogin hat es auf den Punkt gebracht, wenn er beschreibt, wie Stereotypen gewissermassen eine Kohärenz schaffen unter jenen, die sich an ihnen orientieren. Fehlten also solche Stereotypen, so wäre diese Kohärenz gefährdet.131

Mit der Titelgebung und der Verwendung übertrieben grosser Prothesen verweist Harris auf die Tatsache, dass Charaktereigenschaften häufig von körperlichen Merkmalen abgeleitet wurden. Allein die Bezeichnung der Afrikanerin als Venus lässt auf deren vermeintlich ausgeprägten sexuellen Appetit schliessen. Durch selektive Auswahl und übertreibung einiger weniger Merkmale werden Stereotype fixiert, die der individuellen Persönlichkeit keinen Raum mehr lassen. Deshalb erscheint die Darstellerin als Verkörperung eines allgemeinen, unpersönlichen Typus. Die drei farbigen vertikalen Farben im Bildhintergrund von Venus Hottentott 2000 entsprechen der Flagge der afro-amerikanischen Emanzipationsbewegung Universal Negro Improvement Association (UNIA). Die UNIA wurde 1914 von Marcus Garvey (1887-1940) in Jamaica gegründet und erlebte ihre Blütezeit in den Zehner- und Zwanzigerjahren in Harlem, New York. Harris äusserte sich zu diesem Hintergrund wie folgt:

I'm saying that this flag is my family's background too, both immediate and extended all the way, let's say, across the African diaspora.132

Harris hat sich auch eine berühmte historische Figur der afrikanischen Diaspora angeeignet: den haitianischen General Toussaint, der sich selbst in Toussaint L'Ouverture umbenannt hatte. In Toussaint L'Ouverture posiert Harris in einer Uniform mit goldenen Epauletten und mit einem federgeschmückten Hut auf einem grossen, reich verzierten Thron (Abb.13).133 Seine rot geschminkten Lippen fallen auf, umso mehr als deren Rot mit dem Stoff des Throns und dem roten Streifen im Hintergrund korrespondiert. Der Darsteller richtet seinen Blick herausfordernd in die Kamera.

Toussaint wurde 1743 auf Haiti als Sohn eines gebildeten Sklaven geboren. Er zog mit den Spaniern in den Kolonialkrieg gegen Frankreich, lief 1794 zu den Franzosen über und begann danach eine erfolgreiche militärische Laufbahn. Schliesslich wurde er zu Haitis erstem politischen Anführer schwarzer Hautfarbe. Allerdings endete seine zunehmend diktatoriale Amtsführung mit seiner Deportierung durch die Franzosen im Jahre 1802. Harris' Auftritt als Toussaint vermittelt uns nichts Spezifisches über den haitianischen General. Die bildliche übereinstimmung suchte Harris wohl nur andeutungsweise, die Austattungsstücke beschränkte er auf die Uniform und den Thronstuhl. Die drei farbigen Streifen sind leicht als Studiohintergund erkennbar. Harris geht es also nicht um das akribische Nachspielen einer Figur, sondern vielmehr um die Aneignung dieser kaiser-ähnlichen Gestalt. Die rot geschminkten Lippen des Generals bringen ein störendes Element mit ins Spiel, indem sie der Figur etwas Uneindeutiges verleihen.

Diese Uneindeutigkeit setzt Harris auch in seiner Photographie Saint Michael Stewart ein, die ihn in der Uniform der New Yorker Polizeitruppe zeigt (Abb.14).134 Seinen Blick aus den Augenwinkeln richtet er unmittelbar in die Kamera - und dieser Blick ist noch herausfordernder als jener von Venus oder von Toussaint. Diese Direktheit irritiert ebenso wie die wiederum rot geschminkten Lippen. Der Titel dieser Arbeit verweist auf Michael Stewart, einen afro-amerikanischen Graffiti-Künstler, der 1983 in polizeilicher Untersuchungshaft in New York starb. Es wird vermutet, dass Stewart den Misshandlungen durch Polizisten erlag. - Welche Rolle will Harris hier darstellen? Einen potentiellen Gewalttäter in Uniform? Oder etwa das wiederauferstandene Opfer, das sich nun mit Hilfe der Uniform als Polizist verkleidet? Klagt diese Arbeit institutionellen Rassismus an?135 Gewaltsame übergriffe der New Yorker Polizei sind bekanntlich ein höchst brisantes Thema, da sie sich überwiegend gegen Minderheiten richten - meistens sind dies schwarze Amerikaner und Latinos.

Diese Hommage an Michael Stewart ist - wie Venus Hottentott und Toussaint L'Ouverture - ein stark künstlich inszeniertes Bild, das seine Theatralität nicht verleugnet. Die Verwendung eines Studio-Hintergrunds und die theatralische Körpersprache des Künstlers erinnern an die Konventionen der Porträtphotographie. Die rot geschminkten Lippen und die Farben im Hintergrund lösen allerdings eine gewisse Befremdung aus. Sind die Farben der afro-amerikanischen Bewegung UNIA als politische Aussage aufzufassen? Abgesehen von der im Titel enthaltenen Bezeichnung Saint liefert uns Lyle Ashton Harris keinen direkten Hinweis zum Fall Michael Stewart. Auch hier macht er - wie in Venus oder in Toussaint - keine unmittelbar greifbare politische Aussage. Es liegt also am Zuschauer, ob er die Anspielungen auf die Figuren als solche zu erkennen vermag oder ob er eigene Schlüsse ziehen will. Diese Mehrdeutigkeit ist eine wiederkehrende Eigenschaft in Harris' Werken.

Das photographische Bild kann im allgemeinen als Index aufgefasst werden, der auf die Realität verweist. Harris' inszenierte Photo-Arbeiten lassen uns jedoch am Realitätscharakter des Dargestellten zweifeln. Harris untergräbt somit - um Amelia Jones' Worte zu gebrauchen - die Annahme einer 'indexischen Wahrheit' und damit den Glauben an die Wahrhaftigkeit von Repräsentation überhaupt.136

In der amerikanischen Minstrel-Revue schwärzten sich seit dem 19. Jahrhundert weisse Schauspieler ihre Gesichter mit verbranntem Kork, um als blackface das Aussehen schwarzer Amerikaner zu imitieren. Minstrel-Darbietungen waren die populärste Form der Unterhaltung in den Vereinigten Staaten des letzten Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert simulierten weisse Schauspieler wie Al Jolson durch das Schwärzen ihrer Gesichter die scheinbar friedliche Koexistenz der Rassen.137 In seiner Photographie Minstrel verkehrt Harris das schwarzgefärbte Gesicht des Minstrel-Darstellers in sein Gegenteil: das blackface wird zum weiss geschminkten Gesicht - zum white face, aus dem ein melancholischer Blick hervorsticht (Abb.15).138 White Faces ist denn auch der Titel der Werkgruppe, aus der diese Arbeit stammt.139 Die Lippen und Augenbrauen von Harris sind dunkel geschminkt und heben sich so vom hellen Gesicht ab. Dies lässt die Lippen als stereotyp wulstig erscheinen. Das geschwärzte Gesicht der weissen Minstrel-Darsteller, welche den Gesang, die Sprechweise und die Körpersprache schwarzer Amerikaner imitierten, war bloss eine Karikatur eines schwarzen Gesichtes.

Das vornehmlich weisse Publikum war sich bewusst, dass es einen schwarzgeschminkten weissen Schauspieler vor sich hatte. Dieses Wissen war geradezu die Bedingung, damit die Zuschauer an der Minstrel-Unterhaltung wirklich Vergnügen finden konnten. Diese Form der Nachahmung war deshalb geeignet, schwarze Amerikaner durch Imitation und übertreibung lächerlich zu machen. In seiner Photographie Minstrel dreht Harris das Verhältnis des Imitators zum Imitierten um: als Schwarzer spielt er nun einen Weissen, der genauso unecht wirkt wie die Verkörperung eines blackface durch einen Weissen (Abb.15).

Die weisse Schminke in Minstrel spielt auch auf den Aufsatz Peau noire, masques blancs des franko-karibischen Psychoanalytikers und Philosophen Frantz Fanon (1925-1961) an.140 Fanon behauptete darin, der schwarze Kolonisierte habe die Stereotypen des weissen Kolonisators soweit in sich verinnerlicht, dass er als schwarzer Afrikaner gewissermassen eine weisse psychische Maske trage. Fanon postulierte, diese Maske müsse weggerissen werden, wenn der Schwarze eine authentische, selbstbestimmte Person werden wolle. Im gesellschaftlichen Kontext der USA spielt Harris' weisse Maske auch auf die paternalistische Haltung liberaler weisser Amerikaner an, die Afro-Amerikaner dazu aufforderten, weisses Benehmen zu imitieren. Dieses Moment des passing (von to pass: durchgehen, hier: als Weisser erscheinen) trägt in der afro-amerikanischen Geschichte eine ausgesprochen starke symbolische Bedeutung, weil viele Afro-Amerikaner als Weisse erscheinen wollten, um vor der weissgeprägten amerikanischen Gesellschaft bestehen zu können.141 Die Versuche von Schwarzen, sich wie Weisse zu benehmen, gaben in der Minstrel-Revue wiederum Anlass zu besonderem Spott.142 Wenn Lyle Ashton Harris in seinen Photographien seine Hautfarbe verändert, so unterminiert er die klare Einteilung in die Kategorien von schwarz und weiss. Harris fordert auf spielerische Weise einen symbolischen Raum, in den störende Elemente eindringen und somit irritierende Effekte auslösen können - zum Beispiel der durch Schminke erreichte Wechsel der Hautfarbe.

Die afro-amerikanische Künstlerin Adrian Piper (geb. 1948) bediente sich bereits in den siebziger Jahren der Maskerade, um ihren Status als Frau und Afro-Amerikanerin zu erkunden. In ihrer Strassenperformance Mythic Being (1973-76) verkleidete sich die Konzept-Künstlerin als schwarzen Mann. Bei ihrer Frau-zu-Mann-Verkleidung trug sie eine Kraushaar-Perücke und eine dunkle Sonnenbrille und bewegte sich auf männliche Art und Weise. Die Künstlerin beschrieb, wie sie die neuen Handlungsmöglichkeiten in dieser männlichen Rolle erlebte und wie sie in ihrer Persönlichkeit maskuline Aspekte zu entdecken glaubte. Gleichzeitig machte sie aber auch auf die Diskriminierung aufmerksam, die sie als vermeintlich schwarzer Mann erlebte:

I was thinking a lot about specific alterations in physical subjectivity, particularly as a way of bringing out aspects of my own identity that are not readily available-not only that fact that I am black, because many people do not realize that, but also that I have a strong masculine component in my character. [...] The bad part was that I got to experience what it is like for visibly black Americans to simply move through the world in any social context that is primarily populated by white people.143

Für die Künstlerin Adrian Piper, die aufgrund ihrer hellen Hautfarbe oft nicht als Afro-Amerikanerin wahrgenommen wurde, bedeutete die Verkleidung auch ein klares Sichtbarmachen ihrer afro-amerikanischen Identität. In die Sprechblase einer Arbeit, die sie im Anschluss an die Performance herstellte, setzt sie den Text: 'I embody everything you most hate and fear' (Abb.16).144 Diese Aussage konfrontiert Pipers (vermutlich mehrheitlich weisses Publikum) unmissverständlich mit der weitverbreiteten Angst vor dem black male, dem afro-amerikanischen Mann.145 Auf diese Furcht vor dem vermeintlich männlich-aggressiven schwarzen Mann bezieht sich auch Lyle Ashton Harris wiederholt in seinen Arbeiten.

In der Photographie Kim, Lyle and Crinoline zeigt sich Harris nackt neben einer jungen entblössten Frau (Abb.17).146 Die Arbeit ist Teil des Triptychons The Americas - die Mehrzahlform will auf die Pluralität der Kulturen innerhalb der USA aufmerksam machen. Harris hat sein Gesicht weiss geschminkt und trägt eine blonde strohähnliche Perücke. Der Künstler steht neben einer jungen nackten Frau, deren Kopf von einem Schleier umgeben ist. Sie erinnert an eine Braut, deren Körpersprache - sie erhebt ihre leicht gefalteten Hände, als ob sie ins Gebet vertieft wäre - Verwundbarkeit und Schutzbedürftigkeit ausdrückt. Harris könnte hier die Position des Ehemanns einnehmen, wäre sein Gesicht nicht befremdlich weiss geschminkt und trüge er nicht diese blonde Perücke. Seine Verwandlung bleibt absichtlich unvollständig: sein männlicher Körper und seine dunkle Hautfarbe bleiben klar erkennbar. Durch Schminke und Verkleidung werden also hier etablierte Geschlechterrollen - die verletzliche Braut, der beschützende Mann - in Frage gestellt.

Die Photographie David, Lyle and Crinoline lädt zu einem Vergleich mit der vorigen Abbildung ein (Abb.18).147 Sie zeigt wiederum den Künstler, diesmal mit einen jungen, hellhäutigen Mann zu seiner Linken. Wie bei der Darstellerin in Kim, Lyle and Crinoline ist Harris' Kopf von einem Schleier umhüllt. Mit dem weichen, durchsichtigen Schleier - der die Vorstellung auslöst, die verschleierte Person benötige besonderen Schutz - inszeniert sich Harris in einer weiblichen Rolle. Es scheint deshalb nicht abwegig, seine Rolle ebenfalls als die einer 'Braut' zu bezeichnen. Im Gegensatz zu anderen Arbeiten verzichtet Harris jedoch hier auf jegliche Schminke oder Perücke. In David, Lyle and Crinoline wird ein heterosexuelles Paar und dessen Polarität - verschleiert-schutzbedürftig und unverschleiert-beschützend - parodiert.148 Judith Butler betont die Bedeutung der Parodie als Element in der schwul-lesbischen Kultur. Butler argumentiert wie folgt: Wenn traditionelle Rollenverteilungen (hier: die verschleierte Frau, der unverschleierte Mann) in schwulem oder lesbischem Zusammenhang imitiert werden (hier: der verschleierte Mann), so mache dies die überdeterminierung der konventionellen Geschlechterpolarität sichtbar. Butler schreibt zum Verhältnis von Original und Imitation: Die Wiederholung heterosexueller Konstrukte in den Sexualkulturen - seien diese schwul oder 'normal' heterosexuell - stellt eher den unumgänglichen Schauplatz für die Denaturalisierung und Mobilisierung der Kategorien der Geschlechtsidentität dar. Die Reproduktion heterosexueller Konstrukte in nicht-heterosexuellen Zusammenhängen hebt den durch und durch konstruierten Status des sogenannten heterosexuellen 'Originals' hervor. Denn Schwulsein verhält sich zum Normalen nicht wie die Kopie zum Original, sondern eher wie die Kopie zur Kopie. Die parodistische Wiederholung des 'Originals' offenbart, dass das Original nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen ist.149

Butler spricht von der 'parodistischen Wiederholung des "Originals"': um dies zu illustrieren, habe ich das Bild des verschleierten Künstlers in der Rolle der Braut angeführt. Wie die Textpassage erkennen lässt, kritisiert Judith Butler das Konzept des Orginals als Kategorie des Natürlichen auf radikale Weise. Natürlich sei nicht, was gemeinhin als 'natürlich' angenommen werde. In bezug auf die Geschlechtsidentität bedeutet dies: als natürlich werde oft die Kongruenz von biologischem und sozialem Geschlecht bezeichnet. Butler dagegen betont, dass das, was häufig als das Natürliche ausgegeben wird, zuvor 'naturalisiert', d.h. zu einer Fiktion von etwas Natürlichem gemacht worden sei. Butler problematisiert durch diesen Gedankengang den oft als fundamental betrachteten Gegensatz von Natur und Kultur.150

In seinen Arbeiten verwendet Harris Schminke und Kleidung mit transvestitischem Effekt. Harris' Verwandlung in das andere Geschlecht bleibt in der Regel absichtlich unvollständig oder wird gar nur angedeutet. Die Kulturhistorikerin Marjorie Garber führt an, dass transvestitische Vorführungen einen de-konstruktiven Charakter hätten.151 De-konstruktiv bedeutet in diesem Zusammenhang das Sichtbar- oder Rückgängigmachen der Ver-Kleidung. So kann in einer transvestitischen Aufführung (drag performance) auch das Ent-Kleiden ein wichtiger Bestandteil sein. In Miss Girl fällt auf der Wange des weiss geschminkten Gesichts ein Muttermal auf (Abb.19).152 Harris trägt auch hier wieder - und dies ist in unserem Zusammenhang von einiger Wichtigkeit - eine blonde Perücke. Die Perücke als weibliches Attribut lässt sich einfach aufsetzen und genauso leicht wieder entfernen, ähnlich wie sich das Muttermal aufschminken und wieder abschminken lässt.153 Dies veranschaulicht den theatralischen Charakter des Transvestismus. So betrachtet stellt sich die Frage, in welchem Masse Weiblichkeit - da sie anscheinend durch Schminke, Kleidung und Körpersprache imitiert werden kann - als Essenz oder als Konstruktion betrachtet werden soll. Harris verweist mit seinen Verkleidungen auf den konstruierten Charakter von Weiblichkeit. Wenn Weiblichkeit aber als Konstruktion aufgefasst wird, so hat dies ebenso für Männlichkeit Geltung.154

Das Spiel mit der Verkleidung - und häufig auch mit der Ent-kleidung - stellt konventionelle Geschlechternormen in Frage. In Constructs, einer der bekanntesten Arbeiten von Harris, bleibt die Verwandlung durch Rassen- und Geschlechtergrenzen hindurch absichtlich unvollständig (Abb.20).155 Harris trägt in der aus vier Einzel-Photographien bestehenden Arbeit eine blonde oder dunkle Perücke, weisse Schminke und eine Schärpe aus Tüll (Abb.21, 22). Nicht nur das Make-up und die Kleidung sind offensichtlich künstlich, sondern auch der Hintergrund: eine Bahn aus schwarzem Stoff, der an der Wand hängt und auch als Unterlage auf dem Boden dient, lässt das weissgeschminkte Gesicht besonders effektvoll hervortreten. Somit ist der Studiocharakter dieser Arbeit klar erkennbar, was die inszenierte Natur dieser Photographien noch verstärkt.

Die Photographien von Constructs liefern uns keine besonderen Informationen über die weiss geschminkte Person, die Harris hier andeutet. Die Bilder verweisen auf allgemeine Klischees. Die blonde Perücke etwa spielt auf den Archetypus des weiblichen, westlichen Kinostars an - Marilyn Monroe. Wenn die vier Einzelphotographien von Constructs von links nach rechts betrachtet werden, so stellt man fest, dass der Künstler alternierend in Vorder- und Rückenansicht zu sehen ist. Ebenfalls ist eine schrittweise Entkleidung zu beobachten. Im ersten Bild tritt Harris mit transvestitischen Attributen auf: mit weissem, um die Hüfte zu einer Schleife gebundenem Tüll, dunkler Lockenhaar-Perücke und weiss geschminktem Gesicht. Die Beinstellung - mit Spiel- und Standbein - erinnert an eine Ballerina. Da Harris' Geschlecht aber deutlich in der Bildmitte sichtbar ist, bleibt seine Verwandlung bewusst nur angedeutet (Abb.21). Wie bei einer Minstrel-Aufführung soll auch hier klar ersichtlich sein, dass es sich nur um ein Spiel handelt. Auf dem letzen Bild von Constructs steht Harris ohne jegliche Attribute nackt vor dem Studiohintergrund, seinen Rücken gegen die Kamera gerichtet (Abb.24). Dieser Ablauf der Entkleidung kann somit als De-Konstruktion bezeichnet werden: als Prozess der Ent-Kleidung, in dessen Verlauf sich ein mit weiblichen Attributen augestatteter Darsteller zu einem nackten schwarzen Mann verwandelt, dessen ungeschminktes Antlitz wir schlussendlich nicht zu Gesicht bekommen (Abb.21-24).

Eine mittlerweile bekannte feministische Kritik argumentiert dahin, dass Frauen dem 'männlichen Blick' unterworfen seien, dass sie dem männlichen Betrachter zur Schaulust angeboten würden.156 Bezieht man den schwul-lesbischen Diskurs mit ein, so erweist sich diese Konstellation heutzutage allerdings als komplexer.157 Binäre Grundannahmen über die geschlechtsspezifische Natur des Blickes - der 'männliche' Blick, die 'weibliche' Position des Betrachtetwerdens - erscheinen somit problematisch. Wenn sich Harris (teilweise) als Frau verkleidet und sich dennoch als Mann zu erkennen gibt, so wirft dies die Frage auf: An wen richtet sich der Künstler? Wer wird durch dieses Rollenspiel symbolisch er-mächtigt bzw. ent-mächtigt? Der Darsteller oder das inszenierte Geschlecht, das er spielt? Man könnte es so verstehen, dass der Transvestit von seinem wahren biologischen Geschlecht ausgeht und sich symbolisch Macht über das verkörperte Geschlecht verschafft. Weil ihm und dem Zuschauer die Verkleidung und das Rollenspiel jedoch bewusst sind, versichert er sich schlussendlich doch umso mehr seiner eigenen Identität. Transvestitische Praktiken in schwulem und lesbischem Zusammenhang jedoch verlangen gemäss Butler nach einer Betrachtungsweise, die dem Transvestismus nicht einseitig Sexismus unterstellt.158 Judith Butler wirft folgende Fragen auf, die wir auch auf Harris' Verkörperungen von Frauenrollen beziehen können:

Ist die Travestie eine Imitation der Geschlechtsidentität? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität gestiftet wird? Ist 'weiblich sein' eine 'natürliche Tatsache' oder eine kulturelle Performanz?159

Butler postuliert, dass die Geschlechtsidentität eine kulturelle Performanz sei, die durch Gesten gestiftet werde. Durch transvestitische Praktiken - so Butler - werde die Geschlechterbinarität parodiert. Dabei werde die Annahme der Naturgegebenheit eines Originals (hier: die Idee einer authentischen Weiblichkeit) in Frage gestellt. Was als natürlich gedacht werde, ist nach Butlers Auffassung eine Fiktion, in der zuerst eine Gegebenheit ver-natürlicht worden ist. Deshalb lasse sich durch Transvestismus die Idee der Nicht-Natürlichkeit veranschaulichen.160 Aus diesem Grund spielen transvestitische Praktiken in Butlers Gedankengebäude eine wichtige Rolle. Butler betrachtet sie als Möglichkeit, eine 'subversive Diskontinuität zwischen Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren' hervorzubringen.161

Wenn sich Harris mit einer Schleife um die Hüfte porträtiert, so liefert er sich dem Blick des Betrachters genauso aus wie eine Schönheitskönigin oder ein Photomodell auf dem Laufsteg: er präsentiert sich bewusst als Objekt der Begierde. Harris' Constructs wecken Assoziationen an die Photographien von Robert Mapplethorpe (1946-1989), der mit Aktbildern von schwarzen, hyper-maskulinen Modellen Berühmtheit erlangte.162 Mapplethorpe legt in seinen Photographien grossen Wert auf Inszenierung, Oberflächenreize und ausgefeilte Beleuchtung. Das männliche Geschlecht wird in Mapplethorpes Akt-Bildern - so etwa in Thomas in a Box - oft genau in der Bildmitte inszeniert (Abb.25).163 Der Bezug von Harris auf das Bildgut von Mapplethorpe und auf die dadurch verursachten Kontroversen um Machtstrukturen und Objektivierung ist sicherlich beabsichtigt. Dieser Zusammenhang wurde auch anlässlich der Ausstellung Black Male im Whitney Museum betont, welche die Darstellung des Afro-Amerikaners in der Gegenwartskunst und in der Populärkultur zum Gegenstand hatte.164 Kritiker warfen Mapplethorpes Akt-Bildern 'rassischen Fetischismus' vor: der Körper des schwarzen Modells werde als plastisches Objekt betrachtet und besondere Körperteile - häufig das Geschlecht selbst - würden isoliert und als Fragment dargestellt und somit zum Fetisch gemacht. Dieses Vorgehen wiederhole erneut das Machtverhältnis zwischen einem weissen Photographen - in Analogie zum westlichen Kolonisator - und einem schwarzen Objekt, dem symbolisch Kolonisierten. Der britische Soziologe Kobena Mercer wies aber auch darauf hin, dass Mapplethorpes Aktbilder von schwarzen Männern für schwarze Künstler auch als Ausgangspunkt einer De-Konstruktion solcher Männlichkeitsphantasien dienen könnten.165

Durch seine Photographien nackter afro-amerikanischer Männer machte Mapplethorpe das Begehren nach dem Exotischen ohne Umschweife sichtbar: was im Hinterkopf des homoerotischen Betrachters unausgesprochen vorhanden war, führte Mapplethorpe dem Blick der öffentlichkeit vor.166 Lyle Ashton Harris setzte sich mit dem Vermächtnis von Mapplethorpe kritisch auseinander. Als Reaktion auf Mapplethorpe hätte Harris dessen Blickstruktur umkehren und Akte von weissen Männern photographieren können. Dies tat er in seinem Werk jedoch nur selten. Die weibliche Verkleidung und Körpersprache in Harris' Bildern hingegen konterkarieren bewusst die Hyper-Maskulinität, wie sie in den Aktbildern von Mapplethorpe inszeniert wird und wie sie auch in der Populärkultur als eine der auffälligen Eigenschaften des schwarzen Amerikaners erscheint. Harris äusserte sich in bezug auf die Vielfalt seiner gespielten Rollen, die sich von der stereotypen Männlichkeitsphantasie unterscheiden, in folgenden Worten:

I see myself involved in a project of resuscitation-giving life back to the black male body. I'm teasing at the multiplicities of black male experiences, exploring different subject positions, rather than just recycling the fantasy/projection of the available black stud. Part of the way I complicate this project is by including different representations of myself in my work.167

Weil Lyle Ashton Harris seinen Körper - nackt oder bekleidet - oft und gelegentlich bewusst auf provokative Weise abbildet, ist er des Narzissmus beschuldigt worden.168 Dies ist eine Kritik, die häufig gegen sogenannte 'Minoritätenkünstler' gerichtet wird, da in deren Werk das Darstellen des Körpers oftmals eine wichtige Rolle spielt. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Medium der Photographie meistens eine Art narzisstische Betrachtung auslöst: die Photographie gleicht einem Spiegelbild oder der Reflexion auf einer Wasseroberfläche, auf die der Narziss-Mythos schliesslich anspielt.169 Es ist jedoch keinesfalls meine Absicht, darüber zu urteilen, ob nun Lyle Ashton Harris in Tat und Wahrheit in sein eigenes Bild verliebt ist oder nicht. Aufschlussreicher erscheint mir die folgende Fragestellung: Zu welchem Zweck setzt Harris eine Strategie ein, die auf den ersten Blick narzisstisch anmutet? Anstatt den Künstler selbst als narzisstische Persönlichkeit abzustempeln - so die Kunstkritikerin Catherine Liu - soll er als jemand betrachtet werden, der sich kritisch durch den Narzissmus hindurch arbeitet.170 Dieses Vorgehen betont die intellektuelle Komponente des Narzissmus. Harris beschreibt sein Spiegelbild als 'a space for rigorous mediation, cleansing and recuperation' und bezeichnet den Narzissmus als eine 'Form des Widerstands'.171 Betrachtet man den kulturellen Hintergrund von Harris als Afro-Amerikaner, so kann das häufige Inszenieren seiner selbst auch als Strategie bezeichnet werden, die das Verfügen über das eigene Bild zurückfordert und Stereotypen hinterfragt.172 Das häufige Abbilden seines Körpers ist daher nicht bloss Ausdruck einer gewissen Selbstverliebtheit, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag, sondern in der Tat eine kritische Befragung bestehender Bilder - wie derjenigen Mapplethorpes -, die Harris verfremdet und variiert. Das Bild des eigenen Körpers dient dem Künstler deshalb als Schauplatz für Repräsentationen von Geschlecht und Rasse, Begehren und Macht - als Ort, an dem sich Privates und öffentliches überschneiden.

Familienporträts spielen im Werk von Harris eine wichtige Rolle, seien es nun Darstellungen seiner eigenen Familie, seien es fremde oder fiktive Familien. In den 80er Jahren beschworen konservative Politiker in den Vereinigten Staaten die sogenannten family values - oft mit ausgesprochen homophoben Untertönen. The Child ist ein Familienbildnis, das auf diese Beschwörung rigider Geschlechterschemata reagiert: die herkömmlichen Geschlechterrollen sind in diesem Bild nämlich neu verteilt (Abb.26).173 Harris, mit femininem Make-up, hält als 'Mutter' ein Kind in den Armen. Der 'Vater', der die 'Mutter' wie zu erwarten an Körpergrösse überragt, steht neben ihr und hat seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Die Künstlerin Renée V. Cox spielt den 'Vater', mit Schnurrbart und weisser Krawatte, die seine/ihre Männlichkeit markieren. Da der Schnurrbart der Vater-Darstellerin offensichtlich nur aufgeklebt ist und 'seine' Fingernägel ziemlich lang sind, ist der Tausch der Geschlechterrollen offensichtlich. Der Künstler mit dem Kind im Arm, hier tatsächlich in der Rolle der Mutter, dürfte dadurch augenzwinkernd auf Marcel Duchamps Aussage verweisen, der Künstler sei 'only the mother of the work'.174 Der spielerische Tausch der Geschlechterrollen, der in The Child durch Kleidung, Make-up und Körpersprache erreicht wird, illustriert plakativ die These von Judith Butler, dass Geschlechtsidentitäten performativ seien, d.h. durch wiederholte Akte immer wieder von neuem konstituiert werden müssten. Auch wenn jemand Butlers These auf der Ebene der Identität zustimmt, so wird er hier einwenden, dass die Gebärfähigkeit noch als der letzte, ausgesprochen reale Unterschied zwischen den Geschlechtern erhalten bleibe.

In If My Friends Could See Me Now (For Nina Simone, Eartha Kitt, and Mother) porträtiert sich Harris mit einem Kopftuch, dicker Schminke und rot geschminkten Lippen (Abb.27).175 Harris' Selbstbildnis in femininer Aufmachung erinnert an eine Aufnahme Robert Mapplethorpes, in der er sich 1981 als verweiblichten Mann porträtierte (Abb.28).176 Das Bild zeigt den Künstler mit feminin-gewelltem Haar, nacktem Oberkörper und geschminkten Lippen und ist auf dem rückseitigen Umschlag seines Photo-Buches Certain People: A Book of Portraits abgebildet.177 Auf einem anderen Selbstporträt jedoch (das auf der Vorderseite des Bildbandes erscheint), posiert Mapplethorpe im Modus der Hyper-Männlichkeit, mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet und mit einer Zigarette im Mundwinkel (Abb.29).178 In diesen zwei Selbstporträts spielt Mapplethorpe auch auf die Konvention des bekleideten Mannes und der entkleideten Frau an - in herkömmlichen Atelierszenen entspricht dies auch dem bekleideten Betrachter und der nackten Betrachteten. Interessant daran ist ferner, dass sich Mapplethorpe mit diesen zwei Selbstbildnissen offensichtlich nicht auf eine klischeehafte 'genuin-männliche' oder eine 'verweiblichte' Position festlegen will. Er kann vielmehr abwechslungsweise den einen oder anderen Stil annehmen. Diese beiden Selbst-Porträts veranschaulichen somit die Variationsmöglichkeiten des gender, die sich unabhängig vom anatomischen Geschlecht denken lassen. Die Vielfalt der Möglichkeiten spricht gegen eine traditionelle Denkweise, die Männlichkeit und Weiblichlichkeit wesenhaft festlegte und Variationen deshalb nur als (zu verurteilende) Abweichungen von der Norm betrachtete.179

Der Titel von If My Friends Could See Me Now suggeriert eine gewisse Verborgenheit, die Harris' feminine Aufmachung umgibt (Abb.27). Warum fürchtet sich Harris, wenn er als effiminierter Mann auftritt? Dass seine Freunde schockiert wären ob des Anblicks des geschminkten Künstlers wäre doch überraschend, da dieser ja gerade durch solche Arbeiten berühmt geworden ist. Vielmehr ist zu vermuten, dass der Titel auf einer überpersönlichen Ebene auf seine Position als afro-amerikanischer Mann anspielt. Denn der verweiblichte schwarze Mann - machtlos dem weissen Blick und der Lächerlichkeit preisgegeben - ist noch immer ein hochbrisantes Stereotyp. 1987 löste ein ölbild, das den kurz zuvor verstorbenen Bürgermeister von Chicago, den Afro-Amerikaner Harold Washington darstellte, einen wahren Skandal aus: Das Gemälde eines Kunststudenten zeigte den Bürgermeister nämlich nur mit Damenunterwäsche bekleidet.180 Marjorie Garber betonte, dass das Stereotyp des schwarzen effeminierten Mannes einer gegensätzlichen Phantasie gegenüberstehe: derjenigen des potenten schwarzen Mannes, der aufgrund seines gewalttätigen Verhaltens und seines vermeintlich unkontrollierbaren Sexualtriebs als Bedrohung empfunden werde. Garber beschreibt den schwarzen Transvestiten deshalb als eine Figur, die sich am Schnittpunkt dessen befinde, was als lächerlich empfunden werde - der verweiblichte Schwarze und dessen Machtlosigkeit - und gleichzeitig als Objekt der Phantasie und der Furcht gelte - die Hyper-Maskulinität und Aggressivität:

Der schwarze Transvestit markiert den Platz dessen, das in Klammer gesetzt ist, das Paradox vom schwarzen Mann in Amerika, der gleichzeitig ein Zeichen sexueller Potenz und ein Zeichen für Unmännlichkeit oder Kastration ist.181

Garber interpretiert die Figur des schwarzen Transvestiten als eine Figur der Störung. Deshalb widerspiegle der Skandal um das Bild des transvestitischen schwarzen Mannes folgendes: der männliche schwarze Transvestit verkleide sich 'hinunter' zur Weiblichkeit. Nach Garber macht die Ablehnung dieser Verkleidung nicht nur die Verachtung eines sich travestierenden 'verweiblichten' Schwarzen, sondern gleichzeitig auch die Abwertung von Frauen generell sichtbar. Die Autorin erklärt anhand dieses Beispiels ihr Konzept der sogenannten Kategorienkrise: Mit 'Kategorienkrise' meine ich ein Misslingen von definitorischer Distinktion, eine Grenzlinie, die durchlässig wird und Grenzübertritte von einer (dem Anschein distinkten) Kategorie zu einer anderen erlaubt: schwarz/weiss, Jude/Christ, adlig/bürgerlich, Herr/Knecht, Herr/Sklave. Der Binarismus männlich/weiblich, ein offenkundiger Grund (für heutige Augen jedenfalls) zur Unterscheidung 'dies' und 'das', 'er' und 'ich', wird im Transvestismus selbst in Frage gestellt oder ausgelöscht, und eine transvestische Figur oder eine transvestische Mode wird immer als Zeichen von überdetermination fungieren - als Mechanismus der Verschiebung von einer unscharfen Grenze zu einer anderen.182

Harris ist in der Tat jemand, der in seinen Inszenierungen auf diese Kategorienkrise verweist - indem er sich zwischen den Polen von weiss und schwarz, männlich und weiblich, heterosexuell und homosexuell inszeniert. Wie Harris seine Position als der Andere an der kalifornischen Kunsthochschule erlebte, beschrieb er in einem provokativen Begleittext zu seiner Diplomausstellung:

I am the 'multicultural' character personified. [...] It is not easy being one of a few 'people of color' in a program with those who know very little about your culture, and do not care to know more. [...] To be the representative: nigger personified. In the flesh to absorb their projections, their needs, their lacks, their clandestine pleasures, their fears. Not I, for I am the quintessential Black faggot.183

Lyle Ashton Harris tritt ausgesprochen selbstbewusst auf, wenn er sich als Afro-Amerikaner und Schwuler zu erkennen gibt. Dies muss im Zusammenhang mit dem kulturellen Klima der achtziger Jahre betrachtet werden. Dieses Jahrzehnt wurde zutreffenderweise als das Jahrzehnt der 'Panik vor der Sexualität' bezeichnet: in den USA war in bezug auf die Darstellung von Sexualität eine strenge Zensur am Werk; lautstark wurden konservative Familienwerte proklamiert, die andere sexuelle Orientierungen pathologisierten.184 Gegen Ende dieses Jahrzehnts trat eine Reihe von jungen Künstlerinnen und Künstlern - wie Robert Gober, Keith Haring, Zoe Leonard, Jack Pierson und David Wojnarowicz - als Schwule oder Lesben in Erscheinung. Die rasche Verbreitung von AIDS, die mit starken homophoben Tendenzen in der Bevölkerung einherging, war ein wichtiger Beweggrund für das selbstbewusste Auftreten dieser Künstler, welche die Repräsentation von schwulen und lesbischen Identitäten kritisch untersuchten. Dieses Hinterfragen sowie die Strategien des Feminismus bildeten für diese Künstler - so auch für Lyle Ashton Harris - wichtige Charakteristika. Harris erweiterte die geschlechtsspezifische feministische Kritik an der Repräsentation, indem er mit Nachdruck auf seinen Status als Afro-Amerikaner und Schwuler hinwies. In Analogie dazu stellte Judith Butler die überwiegend heterosexuellen Grundannahmen des Feminismus der siebziger Jahre zur Diskussion.185

Wer das biologische Geschlecht als den einzigen bestimmenden Faktor betrachtet, dürfte kaum Zweifel hinsichtlich der Kategorien männlich oder weiblich hegen: das Vergnügen am Transvestismus wird aus dieser Sichtweise leicht als Abweichung verstanden. Dadurch dass die Geschlechter-Forschung die Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren für die Konstituierung der Geschlechtsidentität hervorhob, taten sich jenseits des binären Denkens von männlich und weiblich oder schwarz und weiss neue Möglichkeiten auf. In den Zwischenräumen solcher Binarismen bewegen sich die Arbeiten von Harris. Darin untersucht er den visuellen Reiz von Zwischenpositionen und situiert sich deshalb in seinen Darstellungen in ambivalenten Positionen. Seine transvestitischen Performances fordern die binären Kategorien heraus und hinterfragen die sogenannte natürliche Geschlechtsidentität, die von einer Kongruenz von biologischem und sozialem Geschlecht ausgeht. Wenn sich Harris als Frau verkleidet oder sein Gesicht weiss schminkt, dann spielt er mit dem Zwischenraum zwischen der ihm zugewiesenen Identität (als Mann und Afro-Amerikaner) und seiner gespielten Rolle (als Frau, als Weisser). Dadurch nutzt er Möglichkeiten, die von einem sogenannt essentialistischen Standpunkt aus nicht bestehen können. In dieser Optik wird nämlich vom wesentlichsten Teil ausgegangen, vom Kernstück, das unveränderlich bleibt.186 Der amerikanische Kulturwissenschaftler Michael Rogin hat dies folgendermassen formuliert:

Drag queens who dress as women and whites who black up call attention to the gap between role and ascribed identity by playing what, in the essentialist point of view, they cannot be.187 Der menschliche Körper ist der wichtigste Schauplatz von Harris' Strategien der Repräsentation. Anstatt Stereotypen über schwarze Amerikaner einfach umzudrehen oder positive Bilder des Schwarzseins darzustellen, hat sich Harris dafür entschieden, sich - mit den Worten von Stuart Hall ausgedrückt - innerhalb der Komplexität und Ambivalenz der Repräsentation selbst zu bewegen.188 Das Resultat dieser Strategie ist eine Reihe von mehrdeutigen Photographien, die den wechselnden, instabilen Charakter von Bedeutung betonen. Harris' oft mehrschichtige Bilder sind nicht einfach zu entziffern, obwohl uns die Titel manchmal hilfreiche Informationen vermitteln. Eine endgültige Bedeutung lässt sich aus seinen Bildern jedoch nicht herauslesen. In dieser Hinsicht bewegt sich Harris' Kunst ganz im Umfeld der gegenwärtigen philosophischen Diskussion um die De-Konstruktion, bei der die Bedeutung im Fluss ist und sich daher nicht mehr endgültig festlegen lässt.